Autor: Fate Velaj
Ich begann, die Straße nach oben zu steigen, und nach ungefähr hundert Metern kam ich an einem Punkt an, von dem aus die Straße in drei andere Richtungen verlief. Eine führte steil nach unten, die andere verlief über einen Berg nach oben und die dritte war jene, von der ich gekommen war, sie war noch steiler als die anderen. Einige Meter weiter sah ichSchilder, die mir verrieten, wohin die Straßen führten: Die Straße, von der ich gekommen war, führte in das fünf Kilometer entfernte Sankt Anton/ Jeßnitz. Die Straße nach unten führte nach Frankenfels, ebenfalls fünf Kilometer entfernt, und die Straße nach oben führte nach Puchenstuben,auch dieser Ort fünf Kilometer entfernt. Ich blieb einige Zeit lang stehen, um herauszufinden, in welche Richtung die meisten Autos fuhren, denn dort müsste auch der Ort mit den meisten Einwohnern sein. Nachdem ich einige Zeit an dieser Stelle verweilte, den Blick auf die Berge und Täler gerichtet, umfangen von einer Stille wie in dem Aufwachraum, merkte ich, dass nach einer halben Stunde noch immer kein einziges Auto an mir vorbeigefahren war. Ich drehte meinen Kopf in alle Richtungen, um zu sehen, ob von der Ferne ein Auto kommen würde, doch ich sah nichts als die stummen Wegweiser. Schnell begriff ich, dass das Schicksal nicht großzügig mit mir gewesen war und dass meine Vorstellungen über ein aufregendes Leben in einer großen Stadt, mit Theater, Kinos, breiten Straßen mitvielen bunten Autos, voller Parks und Skulpturen, in denen Herren Frack trugen und Frauen Hüte voller Federn, an diesem Tag, dem 5. August des Jahres 1991, wie mit einem Radiergummi ausgelöscht worden waren. Ich befürchtete, dass es sehr mühsam sein würde, hier Arbeit zu finden, und dass ich ohne Glück wenig Chancen hätte. Für mich hatte nun eine neue Ära begonnen, in der mich Ideen und Fantasien in diesem unbekannten Terrain führen würden, und der Rest wäre das Ergebnis unermüdlicher Arbeit voller Courage, um dorthin zu gelangen, wo ich hin wollte und wofür ich Albanien verlassen hatte…
Vom Flüchtlingslager zu inter-europäischen Auszeichnungen und schlussendlich der Diplomaten-Karriere: 1991 verlässt der junge Albaner Fate Velaj seine Heimat in einer Zeit, in der Europa seine Grenzen neu definiert und Flüchtlingspolitik vor allem Ausgrenzung bedeutet. Mit nichts als 100 D-Mark in der Tasche und ohne Sprachkenntnisse landet er im Gasthaus Kreuztanne, einer Sammelstelle für Migranten. Von dort aus beginnt eine Odyssee, die ihn vom Tellerwäscher und Fabrikarbeiter bis in die internationale Diplomatie führt.
Velaj erzählt in seinem Debütroman eine persönliche Geschichte des Scheiterns und Wiederaufstehens und verknüpft sie mit einer Analyse europäischer Flüchtlingspolitik der 1990er Jahre. Dabei zieht er einen Vergleich zur Jetztzeit und zeigt, was möglich ist, wenn einem Menschen Chancen statt Abschottung geboten werden. "Kreuztanne" ist somit nicht nur eine autobiografische Erzählung, sondern auch ein politischer Kommentar: über Integration, europäische Identität und die Frage, wie viel Hoffnung man einem Einzelnen zumutet – und zugesteht.
Über den Autor:
Maler, Fotograf, Romancier, Kurator und Diplomat. Geboren 1963 in Albanien, kam er 1991 als Flüchtling nach Österreich. Nach seinen Anfängen mit Gelegenheitsjobs arbeitete er als Schichtarbeiter in einer Metallfabrik, während er sich in seiner Freizeit der Kunst widmete. Ab 2001 war er als freischaffender Künstler tätig und engagierte sich als Ausstellungskurator sowie als Kulturvermittler. Für seine Verdienste um die Republik Österreich wurde er mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt, darunter das Bundes-Ehrenzeichen, das Goldene Ehrenzeichen sowie der Titel Professor. Zudem erhielt er den Preis des Europäischen Parlaments und die Ehrenmedaille der Provinz Cosenza in Italien. Seine Werke in Malerei und Fotografie wurden in Museen und Galerien weltweit präsentiert. Nach verschiedenen Engagements kehrte er 2024 als Botschafter seines Heimatlandes nach Österreich zurück.
Hardcover
Wieser Verlag
284 Seiten
ISBN 978-3-99029-684-4